Was wir aus der Causa Brosius-Gersdorf über politische Kommunikation lernen können

Wer öffentlich spricht, überzeugt nicht nur mit Argumenten – sondern mit Haltung. In der aktuellen Debatte um Frauke Brosius-Gersdorf zeigt sich exemplarisch, wie politische Rhetorik auf Glaubwürdigkeit, Kontext und Konflikt angewiesen ist – und was passiert, wenn Haltung als Angriff missverstanden wird.

Rhetorik ist mehr als Technik: Sie ist eine Haltung

In der klassischen Rhetorik unterscheidet Aristoteles drei Grundpfeiler wirksamer Rede:

  1. Logos – die sachliche Argumentation,
  2. Pathos – der emotionale Zugang,
  3. Ethos – die Glaubwürdigkeit des Sprechenden.

Heute, im Zeitalter hochkomplexer politischer Debatten, wird das Ethos zur entscheidenden Ressource. Menschen fragen nicht nur: „Was wird gesagt?“
Sondern: „Wer spricht da – und warum?“

Die Debatte rund um die Nominierung der Verfassungsjuristin Frauke Brosius-Gersdorf zeigt, wie tief politische Rhetorik mit Fragen der persönlichen Integrität, wissenschaftlicher Einordnung und öffentlicher Lesbarkeit verwoben ist.


Der Fall Brosius-Gersdorf: Ein Konflikt um Deutungshoheit

Brosius-Gersdorf wurde im Juli 2025 von der SPD als Richterin am Bundesverfassungsgericht nominiert. Fachlich unumstritten, juristisch renommiert, wissenschaftlich profilierter Hintergrund.
Trotzdem wurde ihre Wahl kurzfristig auf Eis gelegt – mit dem Verweis auf angeblich „umstrittene Positionen“ zum Thema Abtreibung.

Doch was hatte sie wirklich gesagt?

  • Sie argumentierte, dass eine liberalere Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im ersten Trimester verfassungskonform möglich sei – unter der Bedingung staatlicher Schutzmaßnahmen.
  • Sie hinterfragte dogmatisch überlieferte Grundsätze zur Menschenwürde des Embryos, ohne sie aufzugeben.
  • Sie legte ihre Argumente offen, nicht als politische Positionierung, sondern als juristisch fundierte Analyse.

Was folgte, war keine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern eine rhetorische Rahmung: Brosius-Gersdorf wurde zur Symbolfigur einer angeblichen Entgrenzung – obwohl sie in Wirklichkeit für Differenzierung und verfassungstreue Reformfähigkeit steht.


Politische Kommunikation: Wer spricht, ist oft wichtiger als was gesagt wird

Die Rhetorik der Debatte verlief nicht entlang juristischer Argumente – sondern entlang moralischer Zuschreibungen. Brosius-Gersdorf wurde in Teilen der politischen und medialen Öffentlichkeit nicht als Expertin gehört, sondern als politisches Signal gelesen.

Das ist ein typischer Vorgang in politischer Rhetorik:
Es zählt nicht nur die Aussage, sondern der Ort, von dem aus gesprochen wird – und wie dieser rhetorisch gedeutet wird.

Die Kommunikationsstrategie ihrer Gegner:innen war klar:

  • Statt auf ihre Argumente einzugehen, wurde ihr Ethos angegriffen.
  • Ihre Aussagen wurden entkontextualisiert, zum Teil verzerrt oder radikalisiert dargestellt (z. B. durch die Behauptung, sie wolle Abbrüche „bis zur Geburt“ legalisieren – was sie explizit ablehnte).
  • Es wurde eine moralische Polarisierung erzeugt: Wer für sie ist, sei gegen den Lebensschutz.

So wurde aus einer differenzierten Juristin rhetorisch eine angeblich „extreme“ Figur.


Haltung als rhetorische Autorität – nicht Trotz, sondern Transparenz

Was Brosius-Gersdorf in dieser Situation auszeichnete, war Haltung – verstanden als rhetorische Klarheit:

  • Sie sprach nicht taktisch, sondern aus ihrer wissenschaftlichen Perspektive heraus.
  • Sie begründete ihre Position offen – mit juristischen Quellen, dogmatischer Logik und fachlicher Konsistenz.
  • Sie wies Angriffe zurück, ohne sich auf das Niveau ihrer Gegner zu begeben.

In der Rhetorik nennt man das authentisches Ethos: eine Form der Glaubwürdigkeit, die nicht durch Konsens, sondern durch redliche Selbstverortung entsteht.

Diese Art von Haltung wirkt – nicht, weil sie laut ist, sondern weil sie durchdacht, transparent und risikobereit ist.


Wissenschaft und Objektivität? Die Illusion neutraler Kommunikation

Ein weiterer Aspekt dieser Debatte betrifft die erwartete Neutralität von Wissenschaftler:innen. Gerade in der politischen Kommunikation herrscht oft die Illusion: Wer wissenschaftlich arbeitet, müsse „objektiv“ und „unparteiisch“ sein – also ohne Perspektive, ohne Haltung.

Doch die Wissenschaftsphilosophie ist längst weiter:

  • Thomas Kuhn zeigte: Jede wissenschaftliche Erkenntnis ist theorieabhängig – sie hängt vom Paradigma ab, in dem geforscht wird.
  • Donna Haraway spricht von „situierter Erkenntnis“: Wissen entsteht nie aus dem Nirgendwo, sondern ist verortet – sozial, historisch, biografisch.

Wenn also eine Verfassungsrechtlerin eine liberale Position zur Abtreibung entwickelt, ist das keine ideologische Entgleisung, sondern eine legitime argumentative Positionierung – solange sie transparent ihre Gründe dafür darlegt.

Genau das ist passiert.


Was wir aus der Debatte lernen: Rhetorik braucht Haltung

Die politische Kommunikation rund um Brosius-Gersdorf zeigt, wie zentral Haltung für überzeugende, faire und demokratisch tragfähige Rhetorik ist:

  • Ohne Haltung verkommt Sprache zur Strategie.
  • Ohne Ethos werden Argumente nicht gehört.
  • Ohne Differenzierung wird die Öffentlichkeit zur Bühne des Verdachts.

Rhetorik ist keine Technik zur Überredung.
Sie ist – im besten Fall – eine Praxis der Selbstverantwortung im Sprechen.


Fazit: Wir brauchen eine Rhetorik der Integrität

Der Umgang mit Frauke Brosius-Gersdorf zeigt:
Wir brauchen in der politischen Rhetorik weniger moralischen Alarmismus – und mehr rhetorische Aufrichtigkeit.

Haltung bedeutet nicht Rechthaberei.
Sondern die Bereitschaft, für etwas einzustehen, ohne andere mundtot machen zu wollen.
Das ist das Gegenteil von Ideologie – es ist öffentliche Selbstverantwortung.

Denn wer öffentlich spricht, steht nicht nur für Inhalte –
sondern für die Art und Weise, wie wir streiten.


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Mein Name ist Oliver Walter und ich befasse mich seit gut 30 Jahren mit Rhetorik

Ich habe nicht nur ein ganzes Bücherregal mit Fachliteratur, sondern auch nahezu jeden Tipp einmal persönlich ausprobiert. (Spoiler: Sich die Leute nackt vorzustellen hilft nicht wirklich gegen Lampenfieber!)

Ich bringe als Rhetoriktrainer nicht nur mein Fachwissen ein, sondern auch die Erfahrung von deutlich mehr als 1000 öffentlichen Reden, die ich in ganz verschiedenen Kontexten und vor sehr unterschiedlichem Publikum gehalten habe.

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