Wäre es nicht genial, wenn wir unsere Mitmenschen so lesen könnten wie ein Buch? Würde das, zumindest für uns selbst, das Miteinander nicht viel einfacher machen? Klar! Menschen lesen zu können klingt verlockend. Und Du kannst in Gesichtern vieles lesen, das ist wissenschaftlich erwiesen. Zugleich gibt es aktuell einen Trend, der vorgibt wissenschaftlich zu sein und dabei sogar brandgefährlich ist. Auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene!

Aber der Reihe nach: Wir alle können in den Gesichtern unserer Mitmenschen lesen. Sonst wäre Kommunikation wesentlich schwieriger. Wir sehen ein Lächeln, wir sehen, wenn ein Mundwinkel verzogen wird, weil wir etwas nicht so erfreuliches gesagt haben. Wir sehen eine Träne die Wange runterlaufen.

Ein Lächeln erkennen wir immer als ein solches. Und das gilt weltweit. In allen Kulturen bedeutet ein Lächeln genau das selbe.

Erstaunlich viel deuten wir instinktiv richtig. Dabei haben wir alle ja schon im Kindesalter gelernt, unsere Emotionen zu verbergen. Zumindest die negativen. Sprichwörtlich „entgleisen einem die Gesichtszüge“ und man zeigt, nur für den Bruchteil einer Sekunde, eine der Grundemotionen. Bei Paul Ekman waren es damals erst sechs, dann sieben Grundemotionen. Inzwischen wird das Ganze unübersichtlich mit mehr als 20 davon. Bei Ekman waren es noch Freude, Überraschung, Angst, Trauer, Wut, Ekel und Verachtung. Diese sehen jeweils unterschiedlich aus, auch wenn der Unterschied zwischen Ekel und Verachtung nur in der Asymmetrie der Mimik zu erkennen ist.

Trainiert man sich darauf, diese mimischen Anzeichen, die kurz aufblitzen, die so genannten Mikroexpressionen zu erkennen, liegt die Trefferquote erstaunlich hoch. Thorsten Havener zum Beispiel bietet damit eine abendfüllende Unterhaltungsshow, mit der er auf Tour ist. Und es ist so faszinierend, was er alles über Menschen herausfindet. Was er natürlich nicht in ihren Gedanken liest. Sondern in den nonverbalen Signalen. Allen voran die Mimik.

Das wird auch in der Serie „lie to me“ sehr deutlich, deren Hauptfigur auf dem schon erwähnten Paul Ekman basieren soll. Menschliche Lügendetektoren können genau so gute Ergebnisse liefern wie mechanische, die Daten an ein Computerprogramm melden. Du hast das sicher schon mal in einem Film gesehen.

Das Lesen von Mimik ist also eine auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse erlernbare und trainierbare Fähigkeit. Keine 100% Trefferquote. Aber erstaunlich nahe dran, zumindest bei den besten darin.

Anders beim so genannten „Facereading“, das vor einiger Zeit durch die Medien ging. Es wird geworben mit Aussagen wie „Erkennen Sie den Charakter eines Menschen an seinem Gesicht“ oder „Lernen Sie Ihre Mitmenschen innerhalb weniger Sekunden anhand ihrer Gesichtsstrukturen richtig einzuschätzen“. Das klingt verlockend, keine Frage. Aber bemerkst Du den Unterschied zu den oben erwähnten Mikroexpressionen? Es geht hier nicht mehr um mimische Reaktionen. Sondern darum, wie Dein Gesicht nun mal von Natur aus aussieht. Und es geht auch nicht um Deine momentanen Gefühle. Sondern Deinen „Charakter“. Der Begriff „Facereading“ klingt zwar so ganz ähnlich und im anglo-amerikanischen Sprachraum wird er wohl auch für beides gebraucht. Doch inhaltlich und in Sachen Wissenschaftlichkeit liegen Welten dazwischen!

Was ist die These von „Facereading“? Wie es mal auf RTLs Website dazu stand (denn ja, das Phänomen hat es in die Massenmedien wie eben RTL, Brigitte & Co geschafft): „Gesichtsdiagnose: Das verrät Ihr Gesicht über Ihren Charakter“. Und dann geht es weiter mit Aussagen wie

„Große Augen: Sie sind ein liebevoller Mensch. Kleine Augen: Sie sind etwas schüchtern und brauchen mehr Anstoß. Tief liegenden Augen: Sie besitzen eine starke Anziehungskraft. Eng zusammen liegende Augen: Das deutet auf Diskussionsfreude und Leidenschaft hin.“

Das erinnert doch stark an typische Formulierungen in Zeitungshoroskopen: „Fische sind verletzlich, Waage hat einen großen Gerechtigkeitssinn, Widder ist sehr durchsetzungsstark“ oder die Aussagen von Kartenlegerinnen auf diesem esoterischen TV-Kanal. „Oh, oh, Gisela, da hab isch jetzt die PIK7 gezochen, dat heißt nix jutes für ihre Ehe…“

Klingt unseriös? Ist es auch. Aber manche Homöopath:innen wollen mit dieser Methode auch erkennen können, ob ihre Patient:innen z.B. Syphilis haben. Und angeblich nutzen manche autoritären Staaten das Ganze in Kombination mit Gesichtserkennungssoftware, um z.B. bei der Einreise zu erkennen, wer homosexuell ist. Na? Wird´s langsam gruselig? Da sind wir natürlich schon ganz nah an der Phrenologie, die von den Nazis genutzt wurde um die Überlegenheit der „arischen Rasse“ pseudowissenschaftlich zu beweisen.

Genau für diesen wissenschaftlichen Anstrich wird gerne der Begriff „Psycho-Physiognomik“ verwendet. Wer hat´s erfunden? Ein Schweizer. Genauer war es Johann Caspar Lavater, der in den 1770er Jahren ein mehrbändiges Werk verfasste mit dem Titel „Physiognomischen Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“. Hatte ich witzigerweise vor etlichen Jahren mal ein Seminar dazu an der Uni. In diesen Physiognomischen Fragmenten erklärte er anhand von Goethe welches Kinn ein Genie auszeichnet. Also das von Goethe. Natürlich. Was denn sonst? Und wie ein Idiot aussieht. Anhand von Klischees der damaligen Zeit. Und hielt sich selbst für sehr wissenschaftlich dabei. Dabei saugte er sich das alles aus den Fingern.

Herrlich auf die Schippe genommen wurde er dafür von Georg Christoph Lichtenberg. Lichtenberg verfasste sogar eine Parodie auf Lavater. Angelehnt an den langen Titel von Lavaters Werk, nannte er es Fragment von Schwänzen. Darin stellte er Silhouetten von Schweineschwänzen von z.B. nach seiner Aussage unbekannten, meist tatlosen Schweinen, vor. Ganz wunderbarer Humor für alle, die das Original von Lavater damals kannten.

Denn ob Physiognomik überhaupt, auch in ihrer größten Vollkommenheit, je Menschenliebe befördern werde, ist wenigstens ungewiß: daß aber mächtige, beliebte und dabei tätige Stümper in ihr, der Gesellschaft gefährlich werden können, ist gewiß.

Georg Christoph Lichtenberg.
Natürlich ist die attraktive Frau auch gut und intelligent. Während Hässlichkeit mit Dummheit und/oder Verdorbenheit einhergeht. Diese Klischees haben sich bis vor kurzem auch in Hollywood gehalten.

Fazit: Es gab damals und es gibt heute keinerlei Beweise oder auch nur wissenschaftlich haltbare Hinweise dafür, dass die Physiologie eines Menschen, also seine angeborene Physiologie wie die Form der Nase, die Größe der Ohrläppchen, ob dünne oder volle Lippen, etc. irgendetwas über die Persönlichkeit aussagen. In meinen Augen ist das alles Humbug. Die Versprechungen, Menschen auf einen Blick durchschauen zu können, sind aber anscheinend einfach zu verlockend. Das ist fast so ein bisschen wie Lottospielen. Der Einsatz im Verhältnis zum möglichen Gewinn so hoch, dass die Wahrscheinlichkeit keinen mehr interessiert.

Letztlich schmeißt Du meines Erachtens Dein Geld zum Fenster raus, wenn Du einen Kurs in „Facereading“ besuchst. Aber nicht nur das: Und da wird es erst wirklich perfide. Es ist nicht nur nutzlos. Sondern auch nachteilig für Dich, wenn Du darauf hereinfällst. Weil Du dann andere Menschen nach der Nasenspitze beurteilst, und damit dann vielleicht total daneben liegst. Und falsche Entscheidungen triffst. Beziehungen ruinierst. Gespräche falsch angehst. Weil Du denkst, Du könntest etwas über andere wissen, was gar nicht da ist. Weil Du gar nicht erst in die Kommunikation mit diesem Menschen gehst. Sondern schon nach einem „Scan“ ein Urteil gefällt hast. Es gibt nicht schlimmeres für das menschliche Miteinander. Lerne lieber das Lesen der Mimik. „Mimikresonanz“ und wie es je nach Anbieter genannt wird. Das ist wirklich wissenschaftlich. Solange Du auch da Deine Beobachtungen nicht überinterpretierst.

Hi. Mein Name ist Oliver Walter. Ich bin Rhetoriktrainer & Coach. Hier blogge ich über mein Lieblingsthema: Rhetorik & Kommunikation. Wenn ich Dir mit meiner Fachmeinung oder meinem Knowhow weiterhelfen kann, lass es mich gerne wissen. 

Tags

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Weitere Artikel, die interessant sein könnten:

These dieses Blogartikels: Wenn Du weißt, zu WEM Du sprichst, weißt Du auch fast schon alles andere. Also vor allem WAS Du WIE sagen solltest. Entscheidend ist tatsächlich, wer ist Dein Publikum? Und was macht genau dieses Publikum aus. Klären wir aber zuerst mal: Was ist […]
Eigenlob stinkt nicht wirklich. Sondern ist enorm wichtig. Nicht nur für Dich selbst, also im wortwörtlichen Sinne von sich selbst loben, dass Du Dir selbst auch mal sagst: Das hab ich echt gut gemacht. Das tut nämlich hin und wieder gut. Viele Menschen tadeln sich selbst, […]
si tacuisses, philosophus mansisses Boethius zugeschrieben Auf gut deutsch: Hättest Du geschwiegen, hätte niemand gemerkt, dass Du eigentlich nichts vernünftiges zu sagen hast. Ja, es gibt sie. Die Situationen, in denen es rhetorisch geschickter ist, nichts zu sagen. Oder zumindest nicht zu sprechen. Denn ganz bewusst […]
„Wir haben nicht genug Schilder“ war einst das Argument von Volker Wissing gegen ein Tempolimit. Nun behauptet der FDP-Verkehrsminister, „die Leute wollen das nicht“, obwohl die Umfragen meist etwas anderes sagen. Aber Herr Wissing bedient sich dabei eines Tricks. Er bezieht sich nicht allgemein auf das […]
Netzwerken gehört heute zu vielen Berufen einfach dazu. Ob zum fachlichen Austausch, für die eigene Karriere oder direkt zur Kundengewinnung. Plattformen wie lange Zeit Xing und inzwischen eher LinkedIn ermöglichen das digital. Im „echten Leben“ gibt es BNI und andere Netzwerke. Aber Du kannst natürlich auch […]
Die vier Schritte der gewaltfreien Kommunikation ist das Modell, das man kennt, wenn man schon mal etwas von gewaltfreier Kommunikation gehört hat. Mit meinem damaligen Gast und GFK-Experten Markus Fischer habe ich im Podcast darüber gesprochen, dass für ihn dieses Modell bei weitem nicht gleichzusetzen ist […]